Seit knapp vier Wochen bin ich Gastmitsegler bei Jan und Petra. Wir haben in 2020 schon einmal drei Wochen gemeinsames ‚Miteinanderauskommen‘ und gemeinsames Segeln beim Sommer-Törn in der Nord- und Ostsee geübt. Das hat prima geklappt, so dass Jan und Petra mich nochmals für ein Stück ihrer Tour als Gast eingeladen haben. Ich erwähne das, da es nicht selbstverständlich ist, den richtigen Weg zu finden, miteinander auf dem beschränkten Raum eines Bootes zu verbringen. Insbesondere bei langen Schlägen und Nachtfahrten wird es für alle an Bord physisch und psychisch anstrengend. Und lange Schläge hatten wir in den vier Wochen einige.
IJmuiden – Dünkirchen: 24 Stunden
Dünkirchen – Cherbourg: 32 Stunden
Cherbourg – Roscoff: 32 Stunden
Brest über die Biskaya nach La Coruña: 72 Stunden
Was ist mir als Dritter an Bord besonderes aufgefallen?
Zeiträtsel beim Segeln
Eigentlich hat man beim Segeln viel Zeit. Es kommt nicht auf 1 Stunde mehr oder weniger bei der Törnplanung und Durchführung an. Es sei denn man fährt in Tiden-Revieren mit großen Gezeitenunterschieden zwischen Ebbe und Flut. Denn dann sind sowohl Stärke als auch Richtung des Gezeitenstroms und die jeweils aktuelle Wasserstandshöhe, insbesondere bei Hafeneinfahrten, sehr relevant. Dies war bei uns in der Durchfahrt des Kanals von Amsterdam bis Brest der Fall. Um den Gezeitenstrom möglichst nicht gegenan zu haben, sondern ihn als zusätzlichen Antrieb zu nutzen, ist sowohl der Abfahrtszeitpunkt als auch der Routenverlauf wichtig. Stromrichtung und -stärke findet man in Gezeitentabellen und Stromkarten, die jeweils auf einen Bezugsort referenzieren. Für unsere Routenplanung im Kanal war der Bezugspunkt in den Tabellen die Stadt Dover. Diese liegt bekanntlich einer anderen Zeitzone. Desweiteren ist in den Tabellen keine Sommerzeit berücksichtigt, sondern es wird die „englische Standardzeit“ genannt. Jan, Petra und ich haben unabhängig voneinander an der Rätsellösung gearbeitet, welches die richtige Zeit ist, die sich für uns daraus ergibt. Nach einigem Grübeln sind wir unabhängig voneinander zum gleichen Ergebnis gekommen und haben das dann als die wahre Zeit für die Planung angesetzt. Nachts, mitten im Kanal haben, wir dann aber offensichtlich die Zeitzonengrenze nach England überquert und hatten dann auf den verschiedenen Uhren an Bord unterschiedliche Anzeigen, je nachdem ob diese mit oder ohne GPS koordiniert waren. So war zumindest unsere Erklärung.
Am Ende der Kanaldurchfahrt, bei der Einfahrt in die Bucht nach Brest, setzte dann doch der Gezeitenstrom circa 2 Stunden lang in die entgegengesetzte Richtung als von uns erwartet. Wir haben das als lokales Phänomen eingeordnet. In Summe haben alle diese Aspekte und Ereignisse bei mir zu einer neuen Sicht auf die Relativität der Zeit in der Segelpraxis geführt. Einstein hätte sicher Freude daran gehabt.
Zeit zum Schlafen
Bei den Nachtfahrten haben wir eher spontane Absprachen getroffen, wer wann Wache hat. Am meisten hat es leider Jan getroffen. Als Skipper hat er die Crew- und Boots-Verantwortung so stark übernommen, daß er deutlich am wenigsten geschlafen hat. Nach unserem letzten Törn über die Biskaya mit vier Nachtfahrten war Jan dann am frühen Abend des Ankunftstages so geschlaucht, dass er nach einem Glas Wein meinte, er sehe jetzt kleine Klabautermännchen und müsse sofort in die Koje. Petra und ich waren da ausnahmsweise noch fitter (dank mehr Schlaf zwischen den Wachen), so dass wir noch zwei Gläser auf das Wohl des Skippers genossen haben. Dann war aber auch bei uns Schicht.
Essen beim Segeln
Das ist gaaaanz wichtig !
Gehen die Törns ohne Unterbrechung über mehrere Tage, ist die Versuchung groß nur noch schnelles Essen, wie belegte Brote oder Knabberzeug zu sich zu nehmen. Aber nicht mit Petra: auch auf See wird einmal am Tag gekocht und warm gegessen. Zwar nur aus Schalen, damit nichts daneben geht. Aber immer lecker. Sind wir im Hafen, gibt es vor der Hauptmahlzeit (von Petra gekocht) eine Vorspeise (habe meistens ich zubereitet) und danach Brot und Käse. In Summe haben wir kulinarisch super abwechslungsreich gelebt und vieles der lokalen Angebote ausprobiert.
Überraschungen beim Segeln
Auf See ist man sehr darauf fokussiert das Schiff optimal zu bewegen. Sehr oft justieren wir die Segelstellung nach. Bei stärkerem Wind reffen wir die Segel (verkleinern die Segelfläche). Ist der Wind schwächer und kommt aus achterlichen Richtungen (also von hinten), tauschen wir die Segel gegen das Parasailor-Segel (ein 150 qm großes und sehr beeindruckendes Vorsegel). Der Wechsel zum Parasailor ist, wenn alles perfekt läuft, eine halbe Stunde Arbeit. Beide Vorsegel werden eingerollt, das Großsegel eingepackt, die Schoten werden ausgebunden. Die Schoten für den Parasailor werden verlegt , die Achterholerleinen für den Parasailor ebenso, zwei Hilfsleinen (Barbarholer) werden montiert und dann wird das riesige Segel eingebunden und aus dem Bauch des Vorschiffs hochgezogen. Läuft das alles perfekt , ist das eine halbe Stunde Arbeit. Läuft nicht alles perfekt, zum Beispiel Schoten sind verdreht, dann dauert es auch mal eine schweißtreibende und nervenaufreibende ganze Stunde.
All diese Fokussierung beim Segeln, das Hantieren an Bord und vor allem das weite Meer als ausschließlicher visueller Eindruck, führen dann beim Anlegen in einen neuen Hafen zu einem besonders intensivem Umschalten der Wahrnehmung auf die Landschaft, die Städte und Menschen.
Außer Dünkirchen waren alle Hafenstädte eine überaus positive Überraschung für uns. Cherbourg mit einer tollen französischen Stadtstruktur und Architektur und einem super Angebot an Lebensmitteln.
Der Ausflug nach Utah Beach (einer Anlandestrände der Alliierten im zweiten Weltkrieg) mit einem unglaublich schönen Strand, und riesigen Austerbänken und zwei der besten Austern der Welt, die Petra gesammelt und zubereitet hat.
Roscoff mit einem idyllischen, bei Ebbe komplett trocken fallendem Stadthafen, bretonischen Leckereien, wie Galette (deftige Pfannkuchen) und bretonischen Kuchen.
Aber Wrac‘h mit karibischen Stränden (außer der Temperatur) und Brest mit einem Segel-Sportzentrum von Weltgröße, bei dem von morgens bis abends action auf dem Wasser in der Bucht war. Windsurfer, Katamarane, SUP‘s, Optimisten, Jollen mit unzähligen Kindern, Jugendlichen und deren Betreuern bei der Ausbildung.
Und dann die größte Überraschung für uns alle: La Coruña .
Eine quicklebendige Stadt, mit engen Gassen, toller Stadtarchitektur, einem traumhaften großen Strand mitten in der Stadt, und und und. Beim Spaziergang durch die Stadt gibt es an fast jeder Ecke Neues und Interessantes zu entdecken.
Und all diese vielen Eindrücke sind durch den großen visuellen Unterschied zwischen dem Meereserlebnis und Landerlebnis nochmals verstärkt. Eine tolle Art des Reisens und Entdeckens.
Für mich ist am Samstag das Ende der diesjährigen Tour mit dem Rückflug nach München erreicht. Vier außergewöhnlich schöne und intensive Wochen sind dann zu Ende.
Moin Reinhard,
Klasse Beitrag!
Vielen Dank für die tollen Eindrücke.
Wünsche Dir eine gute Heimreise und alles Beste.
Herzliche Grüße von der Insel
Sabine
Danke für die Blumen 🙂
So wie ich euch kenne … segelt ihr erst weiter, wenn ihr alle Tapasbars in Curuna durch habt?!
Dann müssten wir hier überwintern 😉 Aber mindestens eine Woche bleiben wir noch.